WendeBlätter 2020, Ausgabe 44

Prolog

Der Ewigkeitssonntag, gemeinhin Totensonntag genannt (da verharren wir im Blick zurück), ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr, die Wochentage danach zählen noch zum alten Jahr. Mit dem Ersten Advent beginnt etwas völlig Neues.

Diese 44. Ausgabe der WendeBlätter 2020, im Wesentlichen am 20. Nov. 2022 konzipiert, erscheint nun in der Übergangszeit vom alten Kirchenjahr zum neuen. Enthalten ist ein längerer, ursprünglich für eine größere Zeitschrift bestimmter, mir sehr wichtiger Beitrag: „Denkfalle Gewissheit”. Dieser bündelt Erkenntnisse, die schon in einer früheren Ausgabe der WendeBlätter 2020 vorgedacht waren und dies zum Thema hatten: Wie es sein kann, dass wir uns in so gegensätzliche Gewissheiten verstricken auch bei Themen, wo es buchstäblich um alles oder nichts geht, um Leben oder Tod.

November 2022, das ist Allerheiligen (am 1. Nov.), Allerseelen (am 2. Nov.), St. Martin (am 11. Nov.), das ist Bußtag (am 16. Nov.) und Ewigkeitssonntag (am 20. Nov.). Irdisch betrachtet eine Zeit der Unsicherheit, der bangen Erwartung: Was mag da noch kommen? – Ja, es kommt auf uns zu, was wir mit Advent und Weihnachten erhoffen: das Licht der Welt, unbesiegbar. Und mit ihm eine Weihnachtsfreude, die ich seit meiner Kindheit tief im Herzen trage.

Euch allen eine gesegnete, lichterfüllte Advents- und Weihnachtszeit,

Bewahrung auch im Jahre 2023

Mit herzlichem Gruß

Gert Zenker                                                                      Schlegel, am 20. Nov. 2022  

Denkfalle Gewissheit. Eine theologische Reflexion

Wer sich einmal hineinbegeben hat in ein Überzeugungsgefüge, kommt so leicht nicht aus ihm heraus. Dies hindert den Dialog und spaltet die Gesellschaft. Gibt es einen Weg heraus aus der Befangenheit oder müssen wir uns damit abfinden, dass jeder auf seiner Meinung beharrt und wir einander nicht verstehen?

Es ist ein schwieriges Unterfangen, mit wenigen Worten die Situation zu beschreiben, in der wir uns mit der Krise 2020/22 befinden. Freunde treffen sich nach Jahren wieder und entdecken mit Bestürzung, dass sie nun verschiedenen Lagern angehören. Kopfschütteln auf beiden Seiten. Wo ist da ein Weg zueinander?  Da prallen völlig entgegengesetzte Meinungen, verhärtete Gewissheiten,  verfeindete Überzeugungs-systeme  aufeinander oder verharren unvermittelt im Stellungskrieg der Argumente.

Wie kommen wir da heraus? Das beschäftigt mich immer wieder. Die Spaltung der Gesellschaft scheint besiegelt, einander zu verstehen, miteinander zu reden schier unmöglich. Ein sozialer Diskurs, ein offener Austausch der Sichtweisen, findet kaum statt.  Plakate starren uns an, Parolen tönen uns ins Ohr, vor dem Munde im öffentlichen Verkehr die befohlene Maske, Geist und Leib von Injektionen bedroht. Auch Kirche hält da mit.  

Experten oder bestallte Propheten?

Im Supermarkt der so genannten Informationen sticht mir diese Überschrift ins Auge: „Corona. Neue Infektionswellen drohen. Der Expertenrat fordert eine voraus-schauende Vorbereitung. Es wird mit drei Szenarien für den Herbst gerechnet.“ (1) „Welle”: das assoziiert nicht etwa das sanfte Plätschern des Meeres, eher eine Sturzflut.  „Infektionswellen” drohen gleichsam als Personen, dabei kommt die Drohgebärde (man sollte sich von ihr nicht infizieren lassen) doch eher von Menschen her. Das sind mir vielleicht Experten, oder bestallte Propheten, die in ihrer Vorausschau gleich von drei Szenarien sprechen. Als ob eine Inszenierung nicht genügte.  

Und ein Professor der Mathematik vertraut diesen „Experten”? Mit solchem Vertrauen verlässt er allerdings den Bereich der exakten Mathematik, wechselt in ein sehr menschliches Feld über, wo man mit seinem Vertrauen, seiner mathematischen Vernunft und Gewissheit schnell zur Beute der Propaganda werden kann.

Wem soll ich nun folgen: diesem Professor, der mir erklärt, noch nie seien Impfstoffe so gründlich geprüft worden wie die gegen Corona („das ist mathematisch evident”), oder dem anderen Professor der Mathematik, Peter Dierich in Zittau, der als Statistiker beharrlich nachweist, was an den Zahlen der Propaganda nicht stimmt, wo vertuscht, manipuliert und buchstäblich gelogen wird? Als Philosoph vertraue ich – dem Skeptiker.

Die Anpassungsmasse

Vielleicht ist die Masse (2), sofern sie sich bei einem gewissen Grad der Unterdrückung nicht als Revolutionsmasse zusammenfindet, in Friedenszeiten per se eine Anpas-sungsmasse. Zu ihr gehören Menschen jedes Berufs, jedes Alters und Standes, jedes Charakters, Männer, Frauen, Kinder. Wer gut denken kann, den hindert vielleicht ein gewisses Ruhebedürfnis, die Eigenschaft, sich mit niemandem anlegen zu wollen, an einer klaren Positionierung. Auf der anderen Seite genügen Mut und ein widerständiger Charakter nicht, wenn die Bereitschaft zum tieferen Denken fehlt. Wieder ein anderer denkt, er hat Mut, sieht die Impfung kritisch, lässt sich aber dann doch darauf ein … Es sind nicht allein bestimmte Charakterzüge der Menschen, die zur Anpassung neigen, es ist eine kaum zu entwirrende Mischung der verschiedensten Eigenschaften und Einflüsse.

Ich denke, die Strategen der Macht, die Profis der Propaganda kennen uns weit besser als wir uns selbst. Das System bietet für jeden Charakter eine ausgeklügelte Strategie, die ihn zum Gehorsam zwingen will.

Offenbar gibt es ja doch ein paar Grunddaten, menschlich-allzumenschliche Eigen-schaften, an welche die Propaganda, die es mit Millionen Menschen zu tun hat, anknüpfen kann. Eine dieser Eigenschaften ist die Gutgläubigkeit. Wir ahnen ja gar nicht, wie sehr wir in unserem Denken und Fühlen, unserer hochheiligen eigenen Meinung von außen her geprägt sind. Freiheit und alles Denken beginnt mit der Freiheit von Propaganda …

Das Prinzip Nichtverstehen

Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen, sie bietet Hilfe zum Verständnis von Texten, Kunstwerken, Individuen, von  Handlungen und geschichtlichen Ereignissen, kurzum: von Sinnzusammenhängen – aus sich selbst heraus.

In der Geschichtsbetrachtung unterläuft es uns immer wieder, dass wir – das  hermeneutische Grundprinzip, eine Zeit aus sich selbst heraus zu deuten  missachtend – eine zeitgeistige Ideologie darüber legen und das zum Maßstab machen, wie wir heute denken und so die Geschichte verfälschen. Ideologen der Umerziehung des Menschengeschlechts neigen gar dazu, andere Menschen ihrer Sichtweise, ihren Zwecken gefügig zu machen: So sollt ihr die Dinge sehen, so sollt ihr denken und urteilen, nicht anders.  

Schaut man auf die Situation in unserem Lande, herrscht in der Propaganda – bei welchem Thema auch immer (ob Corona oder die Ukraine) – eher das Prinzip der Anti-Hermeneutik. Man will nicht, dass die Menschen einander verstehen, hält sie mit Schlagworten auseinander, pflegt das Vorurteil, die gegenseitige Verdächtigung, das Schubladendenken, den engen Horizont. Propaganda sucht eine Gesellschaft zu uniformieren und spaltet sie zugleich. Die einen ziehen sich die Propaganda-Jacke an, andere verweigern sich der Uniformierung, wagen eigenständiges Denken. Welches natürliche Hausmittel haben wir gegen den Coronawahn? – Den gesunden Menschenverstand, sofern der nicht auch schon angekränkelt und fünfmal geimpft ist …

Wenn die Liebe stirbt („Du sollst Gott lieben und Deinen Mitmenschen wie Dich selbst“; vergleiche Lukas 10, 27), stirbt das Verstehen, kommen die kalten Argumente auf, drängen sich Rechthaberei, Neid, alle Untugenden des menschlichen Ichs dazwischen. Festgefahrene Überzeugungen, Meinungen, Gewissheiten, Ideologien haben ihren tiefsten Grund in der fehlenden Zuneigung, in mangelnder Liebe zum anderen Menschen.

Vom Relativismus der Gleichgültigkeit

Auf der einen Seite steht das hohe Bedürfnis des Menschen nach Gewissheit, nach festem Boden unter den Füßen, auf der anderen Seite sind wir konfrontiert mit dem zeitgeistigen Relativismus. Entscheidend, ob einer wirklich Wahrheit will oder sich dem Strudel des Relativismus überlässt, dem Einerseits-Andererseits, in dem alle klare Erkenntnis untergeht. Die Gleichberechtigung, die Behauptung der Gleich-Gültigkeit von allem ist das Problem, wenn da im falschen Verständnis von Toleranz kein Unterschied mehr gemacht wird.

In der relativistischen Weltsicht steht das Törichte gleichberechtigt neben dem Klugen, das Rohe neben dem Sanften, das absolut Geistlose neben dem Geistvollen, die Lüge gleichberechtigt neben der Wahrheit, der Teufel gleichgültig neben Gott. Mit anderen Worten: Du kannst jede Meinung haben über Gott und die Welt, und sei Deine Sicht noch so beschränkt, man wird Dich hören, auch das Banale gelten lassen. Darauf bauen Ideologen … Sie machen ein Geschäft mit solcher Torheit.                                   

Wahrheit und Gewissheit: keine abstrakten Begriffe

Wahrheit, Gewissheit, Gerechtigkeit, Hoffnung werden oft viel zu  abstrakt betrachtet – im Konkreten erst gewinnen sie Gestalt. Wahrheit muss sich prüfen lassen. Ist sie hell, ist sie lauter, öffnet sie die Augen, gibt sie uns eine Perspektive, scheidet sie sich klar vom Dunkel dieser Welt, vom gottfeindlichen Kosmos im Sinne des Johannesevangeliums oder – bleibt sie in ihm befangen? Dann ist sie nicht im Vollsinn Wahrheit. Wenn einer nur sagt: „Das ist die reine Wahrheit“, hat er sie noch nicht bezeugt. Mehrere Wahrheiten nebeneinander offenbaren im Plural ihre Nichtigkeit. Meine Wahrheit, Deine Wahrheit? Auch Besitzanzeige passt nicht zu ihr. Im christlichen Verständnis gibt es eine ewige Wahrheit, unabhängig von Raum und Zeit, eine tiefe Wahrheit, flach kann sie niemals sein. Eine lichte Wahrheit, dem menschlichen Geiste dunkel vielleicht, aber nie auf Seiten der Finsternis: die eine, ungebrochene Wahrheit, die Christus selbst ist.

Lebendige und tödliche Gewissheiten

Gewissheit, wo sie Vertrauen, tief innere Gottesgewissheit ist, schenkt Leben. Aber Ge-wissheit kann auch töten, aus tiefster Überzeugung Leben zerstören. Letzteres geschieht, wenn Gewissheit den geistigen Raum verlässt und der Charakter des Menschen, sein gespaltenes Wesen ins Spiel kommt, die Neigung Recht haben zu wollen, die Sehnsucht nach etwas fest Gefügtem.  Vielleicht ist es auch das „kollektive Weltbild“ (3) seiner Zeit, das ihn in starre Gewissheit treibt. Da tritt der Mensch aus der inneren Haltung kindlichen Vertrauens heraus  und wird – zum Täter.

Ein Christ wird ein Christ bleiben, ein Muslime ein Muslime, ein Atheist ein Atheist, ein Corona-Maßnahmengläubiger ein Maßnahmen-Gläubiger, ein Skeptiker ein Skeptiker. Das ist die Regel – Konversionen, Übertritte von einem Bekenntnis zum anderen sind selten. Menschen verharren in ihren Gewissheiten, ändern nur selten grundsätzlich ihren Weg. 

Wie leicht vergisst ein Mensch, der sich doch tief im Herzen zu dem Gott der Liebe bekennt, im Übereifer der Mission, was Christus gesagt hat: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen … und deinen Mitmenschen wie dich selbst“ (Lukas 10, 27). Ein anderer redet von Toleranz und Respekt und merkt gar nicht, wie toleranz- und respektlos er sich gegenüber Andersdenkenden verhält. Am Ende greifen verhärtete Gewissheiten, man mag  sie Meinungen oder Ideologien nennen, zu den Waffen, zuerst verbal – „Tod und Leben stehen in der Gewalt der Zunge“ (Sprüche 18, 21) –, dann buchstäblich, durch Anwendung kriegerischer Mittel. 

Meinungen sind aus allen möglichen Elementen zusammengeballte Gedanken und Gefühle; werden weite Kreise von ihr erfasst, wird Ideologie daraus. Als Mittel, solche Ideologien zu verbreiten, dienen Agitation und Propaganda. Und Propaganda entfernt sich oft sehr weit von dem ursprünglichen Bekenntnisgrund, auch von ethischen Grundsätzen. Die unerschütterliche Gewissheit, mit der die Propaganda auftritt, berührt unangenehm, ist geradezu peinlich. In der Propaganda verhärtet sich ein Bekenntnis, wird zum bloßen Machtinstrument.

Heraus aus der Meinungsfabrik

Wenn wir von abstrakten Begriffen wegkommen wollen, versuchen wir es doch weiter mit Eigenschaftsworten: Kalte Gewissheit – heiße Gewissheit,  starre Gewissheit – lebendige Gewissheit, demütige oder stolze Gewissheit. Heureka! Nach langem Rätseln endlich gefunden, dabei ist die Lösung so einfach: Es geht um die Eigenschaften, die Art und Weise, die Äußerungsformen, die Haltung von Gewissheit. Bringt man die eigene Gewissheit in Demut zur Sprache und erträgt man die der anderen mit Würde und Anstand, mit offenem Herzen? 

Entscheidend ist, ob Gewissheit mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe im Bunde ist, oder ob sie, gar im Komplott mit der Lüge, nur als egoistische Selbst-gewissheit oder kollektive Zweckgewissheit einer Clique auftritt nach dem Motto: Wir sind uns sicher, wir erreichen unsere Ziele! Wenn sich Gewissheit zu einer Ideologie, einem ganzen Überzeugungsgefüge aufbauscht,  geht es nicht mehr um Wahrheit und Gerechtigkeit, nur noch um kalte Zwecke und Ziele.

Soll doch jeder seine Gewissheit haben, das Kriterium ist, ob sie mich selbst und den anderen belastet, bedrängt, gefangen hält, ob sie hindert oder befreit, den Weg zu höherer Erkenntnis eröffnet oder verschließt, ob sie von Güte und Barmherzigkeit getragen ist.

Gewissheiten, die sich machtvoll gebärden, in steifer Rüstung daherkommen: „Das ist meine Meinung!“, taugen nichts, sind nur ein Panzer. So soll Gewissheit nicht sein. Eher wie ein reifer Apfel, den ich dem anderen zu kosten gebe. Beiß hinein, und sieh, ob er dir schmeckt. Und gibt mir von den Früchten deines Gartens. Heraus aus der kalten Meinungsfabrik – gemeinsam ins Offene.

Menschenworte und der Logos

Sag mir das Wort, das befreit, vor dem ich mich verneige. Und lies in mir nicht wie in einer Zeitung. Sag mir das Wort, ohne den großen Rand, sag es mir ungerahmt. Sag mir das Wort, das mich umfängt, das Eine, aus dem dunklen Kosmos der Vielen. Sag mir das Wort, dem keiner widersprechen kann, wenn es Licht wird – einst … Sag mir das Wort, halte es nicht zurück, gib ihm Klang. Sag mir das Wort aus dem Kräuseln des Meeres, dem Ruf der Seevögel, dem Goldharz, dem seltenen. Sag mir das Wort von Mund zu Ohr und nichts dazwischen. Sag mir das Wort, das befreit, vor dem ich mich verneige. Christus – das lebendige Wort Gottes. Der Logos, der im Anfang war (Johannes 1, 1).

(1) Sächsische Zeitung. Die Tageszeitung für Pirna, Sebnitz und das Umland v. 09. Juni 2022, S. 1.

(2) Vgl. Gustave Le Bon (1841–1931): Psychologie der Massen (Paris 1895), Elias Canetti (1905–1994): Masse und Macht (1960), Joachim Maaz (und andere): Corona-Angst. Was mit unserer Psyche geschieht (2021).

(3) Zum Begriff des „kollektiven Weltbildes“ (Synonym für den Geist der Zeit) vgl. den Roman von Steffen Pichler: Der Goldene Frühling, 2019, S. 137. 

27. Aug./ 28. Okt. 2022 (G. Z.)

NB (v. 20. Nov. 2022): Der vorstehende Beitrag wurde von einer respektablen systemkritischen Zeitschrift zunächst angenommen, dann von einer Ausgabe zur anderen verschoben, schließlich verlangte das Magazin die Streichung des letzten Absatzes, u. a. mit der Begründung,  der Text verliere mit der Streichung „nichts von seiner Qualität und Aussage“. – Da denke ich anders. Wir haben in unserer Gesellschaft eine höchst merkwürdige Scheu vor dem Kreuz, vor dem Bibelwort, ja vor dem bloßen Namen des Erlösers, dessen Geburt wir zu Weihnachten alljährlich feiern.  Das ist kein Fest des Relativismus … In der Krippe erkenne ich ein göttliches Wesen mit menschlichem Antlitz. Vere Deus, vere homo. Wahrer Mensch und wahrer Gott. IHN, den menschgewordenen Logos zu verleugnen, auszustreichen, verbietet das Gewissen. Kurzum: eine Veröffentlichung des Textes ohne den Logos-Absatz kommt für mich nicht in Frage.        

Michael Schuch: „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes“ (Zwingli)

Am 11. Oktober 1531, vor 491 Jahren, wurde Huldrych Zwingli bei Kriegshandlungen getötet, gevierteilt und als Ketzer verbrannt. Er war es, der die Reformation in der Schweiz ins Rollen brachte und dafür mit seinem Leben bezahlte. Er war ein Mann, der das Wort Gottes über alles geliebt hat. Als Erasmus von Rotterdam 1516 eine griechische Version des NT herausbringt, schreibt Zwingli alle Paulusbriefe für sich in ein kleines Büchlein ab und lernt diese auswendig – auf Griechisch!

1519 beginnt er als Leutpriester am Großmünster Zürich mit einer Predigtreihe über das Matthäusevangelium. Es wird berichtet, dass die Handwerker der Stadt ihre Arbeit vor dem Mittag niedergelegt haben, um ihm zuzuhören. Denn er las keine lateinischen Messen, sondern verkündete Gottes Wort so, wie es jedermann verstehen konnte – auf Deutsch.

Das Jahr 1519 sollte für Zürich ein annus horribilis (ein schreckliches Jahr) werden. Im August bricht die Beulenpest aus, die Hälfte der Einwohner stirbt. Im September erwischt es auch Zwingli, es beginnt ein qualvolles Ringen. Doch der Herr über Leben und Tod sieht Zwinglis Aufgaben auf Erden noch nicht vollbracht. Anfang November 1519 geht es wider Erwarten aufwärts. Und am 31.12. kann er sagen: „Ich für meine Person bin gesund, gestern habe ich endlich das letzte Pflaster vom Pestgeschwür beseitigt“. Nach überstandener Krankheit und Todesnot verfasst er sein Pestlied.* Ein berührendes Poem.          

* Ein Gedicht in Anlehnung an Psalm 65. Vgl. Michael Schuch, Anhang zum Podcast auf YouTube: https://youtu.be/LfY4QOch9pU

Knapp 12 weitere Lebensjahre werden ihm geschenkt. In denen die Reformation erst richtig Fahrt aufnimmt. Ab 1525 ist sie in Zürich abgeschlossen. Bilder, Messen und Zölibat sind abgeschafft und es gibt eine geregelte Armenfürsorge. Unter Leitung des Reformators entsteht zwischen 1524 und 1529 die Zürcher Bibel, die er und sein Über-setzerkreis erarbeiten.


Das auf der Briefmarke abgedruckte Zitat „Tut um Gotteswillen etwas Tapfe-res“ stammt aus dem Jahr 1529. Adressat war der Magistrat der Stadt Zürich. Zwingli bat diesen in einem Brief eindringlich, in den Verhandlungen mit einigen altgläubigen Orten, die die Einführung der freien reformierten Predigt nicht zulassen wollten, keine Abstriche zu machen. Denn „durch freundliches Entgegenkommen werden diese etwa so nachgiebig wie der Wolf angesichts der Sanftmut des Lämmleins, er wird nur immer gefräßiger.“

So weit diese kurzen Streiflichter. Liebe Freunde, können wir dieses Wort auf unsere Zeit anwenden? Nun, ich glaube schon. Damals wie heute geht es um die Liebe zur Wahrheit und ihren Einfluss auf unsere Entscheidungen. Angesichts der durch Hygienediktatur und Klimawahn, Kriegstreiberei und Inflation, Gendergaga und Cancel Culture bereits verursachten gesellschaftlichen Schäden – und ein Ende ist nicht abzusehen – bieten sich uns ausreichend Handlungsfelder, Tapferes zu tun. Die Liebe zur Wahrheit lässt uns unser Schweigen brechen, wo Lüge als solche benannt werden muss. Sie bewahrt uns davor, einmal gezogene rote Linien zu überschreiten. Und sie befähigt uns, einer übergriffigen Obrigkeit ein ums andere Mal ein mutiges „Nein“ entgegenzuhalten.

Doch für uns Christen ist es nicht damit getan, nur unsere jeweilige Komfortzone zu verlassen. Tapfer aufzutreten um Gotteswillen – und ich betone um Gotteswillen – erfordert darüber hinaus die rechte Erkenntnis nach Römer 12,2 (Zitat nach der Zürcher Bibel): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“

Lasst es uns Zwingli gleichtun und als Liebhaber des Wortes Gottes dieser verdorbenen Welt jeden Tag in einem erneuerten Sinn tapfer dienen mit dem, was gut, wohlgefällig und vollkommen ist.

Michael Schuch                                                                                      11. Okt. 2022        

Kolonialwaren  

Gedanken im Vorüberfahren … „Kolonialwaren Siegfried Brauner” ist in Velký Šenov, ehemals Groß Schönau*, noch über dem der Straße zugewandten Mitteleingang eines Hauses zu lesen.  

* Velký Šenov liegt in Tschechien, im sog. Schluckenauer Zipfel. Am 04. Okt. 1907 war der im 12. Jahrhundert gegründete Ort namens Schönau von Kaiser Franz Joseph zur Stadt erhoben worden und hieß fortan Groß Schönau. Von 1884 an bestand in Schönau die erste galvanischen Fabrik im damaligen Österreich-Ungarn. – Im Zittauer Gebirge gibt es unweit einen gleichnamigen Ort anderer Schreibung: Großschönau.

Zu beiden Seiten der ehemaligen Ladentür ein großformatiges Schaufenster, am rechten sind die hölzernen Jalousien noch erhalten, vermutlich hat man sie schon lange nicht mehr geöffnet, beim Aufziehen würden sie zerbrechen. Am linken Fenster sind einzelne Lamellen herausgetrennt, wohl um Licht zu bekommen, die anderen hat man festgeschraubt. Vom deutschen Siegfried fehlen im Frieden zwei Buchstaben (I und E), man kann sie nur erraten. Weiter oben über dem früheren Ladeneingang der kleine Kopf eines verwitterten Engels, darüber ein Muschelornament.

1945, vor 77 Jahren, sind die deutschen Einwohner ausgewiesen worden. – Wenn heute ein Mensch, um 1940 geboren, das Haus seiner Kindheit in einem der böhmischen Orte nahe der Grenze wiedersehen will, hat er vielleicht mit 82 Jahren noch die Kraft dazu. Möglicherweise steht das Haus ja noch, aber die Erinnerungen des alten Mannes sind verblasst, nichts ist mehr so, wie es einmal war. Andere Menschen mit einer anderen Sprache – man grüßt sich freundlich – leben jetzt in diesem Haus, die alte Dorfgemeinschaft ist zerbrochen, eine neue entstanden. Jedenfalls steht ein paar hundert Meter weiter die im 16. Jahrhundert erbaute, um 1750 barock umgestaltete Kirche noch. Auf dem alten Friedhof gibt es viele deutsche Gräber, für deren Bewahrung sich nun tschechische Anwohner einsetzen.

Ich kenne eine alte Frau, die als Kind im Laden von Siegfried Brauner ein- und ausgegangen ist, sie erinnert sich noch an die Bonbons, die Herr Brauner verkauft, manchmal auch verschenkt hat. Kolonialwaren, das klingt im Ohr des modernen Menschen anrüchig. Als ob es heute keine Kolonien gäbe, man nennt sie nur nicht mehr so. Am drohenden Horizont die Erde als eine einzige, große Kolonie …

14. Okt./20. Nov. 2022

Zwei alte Häuser

Zwei alte, halb verfallene Häuser (wohl einst ein Bauerngut) am Grenzübergang nach Polen. Sie stehen so unglaublich nah, von Gesicht zu Gesicht, kein Hofraum da-zwischen. Das stimmt mich traurig, jedes Mal, wenn ich hier vorüberfahre. Wie schön wäre es, wenn diese zwei ein paar Meter mehr Abstand hätten, wenn da ein Hof wäre, der Raum ließe für Menschen und Tiere, für die Sonnenstrahlen, den Wind, den Regen … Auch Häuser, die weit voneinander leben, können sich nahe sein in ihrem Wesen, miteinander träumen, schlafen am Abend.

Doch hier starrt das eine Haus dem anderen in die Fenster, glotzt es beständig an. Man sieht alles, was gegenüber vorgeht, erlebt es hautnah. Die Menschen trauen den Fenstern nicht, verdunkeln sie mit Vorhängen, lassen am Abend zeitig die Jalousien herunter. Am Tage ziehen sie sich zurück in die hinteren Gemächer, schauen hinten heraus, voneinander abgewandt, wie manche Eheleute.

Immer  nah auf dem Pelz, wer möchte auf Dauer so leben? Vielleicht stand das eine Haus schon eher und man brauchte irgendwann ein zweites, hatte zu wenig Platz für die sich vergrößernde Familie. Wo sind die Kinder jetzt? Sie haben die Häuser längst verlassen … Wie schön wäre doch ein wenig Abstand gewesen. Zwei Wohngebäude,  dazwischen, im rechten Winkel, eine Scheune. Ein Dreiseitenhof mit offener Hofeinfahrt. Ein Traum.

Leblos starren alte Träume, schon halb verfallen, einander an. Tag für Tag …

14. Okt. 2022

Handwerk hat goldenen Boden

Ein Autokorso von Unternehmern protestiert auf dem Ring einer sächsischen Kleinstadt gegen die Schädigung des Mittelstandes. Es sind viele Fahrzeuge, Lastkraftwagen, Kleintransporter, Traktoren, verschiedene Geschäftsfahrzeuge. Der Korso dauert fast eine Viertelstunde.

In der Straßeneinfahrt zum Ring stauen sich die Autos. Ein Vater mit zwei Söhnen (einer hat an diesem Tage seinen 11. Geburtstag, die drei wollen zur Feier des Tages Eis essen in der Stadt) steht außerhalb des Stadtrings und winkt den Vorbeifahrenden zu. An der gleichen Straßeneinfahrt eine junge muslimische Mutter mit zwei kleinen Kindern.

Die Zuschauer des Korsos sind rar gesät. – Kinder, wenn die Menschen begriffen, wie wichtig der Mittelstand, wie wichtig das Handwerk ist, müssten sie zu Tausenden hier am Straßenrand stehen. Aber sie begreifen es nicht.  Stirbt das Handwerk, hilft Dir kein Maurer, kein Zimmermann, kein Dachdecker mehr beim Bauen, kommt kein Klempner ins Haus und kein Elektriker, repariert niemand Dein Auto. Den Schornsteinfeger, den Bäcker und den Fleischer vor Ort suchst Du dann auch vergebens. Wenn das Handwerk goldenen Boden hat, den Handwerker selbst ernährt und auch für die Gesellschaft von hohem Nutzen ist, so sind wir jetzt nahe daran, den Boden unter den Füßen zu verlieren …

Und was bleibt dann (wenn alle Pleite gehen)? Keiner mehr, der zupacken will und – kann.

13. Okt. 2022

Sumpfland

Die Politik – ein Sumpf, in dem man versinkt, da halte ich mich heraus mit Gottes Wort, sagt der Pfarrer. Ein anderer predigt über die Ukraine oder den Klimawandel, und es klingt, als lese man die Zeitung. Leider steht auch Kirche weithin auf sumpfigem Gelände, überschwemmt vom Geist der Zeit, dem Getön der Medien. Das Haus auf dem Berge, auf Fels gebaut, das hält stand. Da oben ist man einigermaßen sicher. Eine hohe Warte. Aber wenn Menschen zu versinken drohen, da unten? Steigst Du, Pfarrer, da nicht herab? 

Um Politik sollst Du Dich nicht bekümmern, aber um die Schäflein der Herde, die unter ihr leiden, falschen Hirten folgen. Sich heraushalten bedeutet, ein Konkordat mit der Macht zu schließen, wie es im Grunde jeder Mitläufer tut. Und das ist Kirchenpolitik. Ringsumher werden Menschen am Atmen gehindert, mit Gesundheitsnachweisen bedrängt, zu Tode geimpft. Und wir schauen zu … Sich heraushalten aus der Politik? Konzentration auf Gottes Wort? Das klingt löblich. In Wahrheit hat sich Kirche 2020/22 nicht herausgehalten aus der Politik, sie ist ihr aufgesessen und hat in Menschenfurcht Gottes Wort verraten.

Wie haben wohl Theologen (Deutsche Christen) damals über den Widerstand der Bekennenden Kirche geurteilt, den sie gar nicht verstanden?! 

Erkenntnishinderung

Hinter der Klage über die Fülle der Informationen zur Krise 2020/22 („ich kann nicht alles lesen, muss abwägen, wofür ich meine Zeit investiere”) verbirgt sich eine rätselhafte Weigerung, bisweilen die schlichte Unfähigkeit, Dinge zu bündeln und das Wesentliche klar zu erfassen. Eine Art Realitätsblindheit, die zwar allgemein von der Sündhaftigkeit des Menschen weiß, sich aber weigert, im Konkreten  den realen Schuft zu erkennen, der sich einer höheren Spezies zugehörig fühlt und profit- und macht-gierig buchstäblich über Leichen geht.

Den Winkelzügen dieser Clique auf die Schliche zu kommen, ist mühevoll, da muss ich mich von Glotze und Zeitung und manch liebgewordener Meinung lösen. Einfacher ist es freilich (und folgenschwer …), den Beschwichtigern zu glauben: „Es läuft alles demokratisch und zu Euerm Besten.”    

15. Okt./20. Nov. 2022

In hundert Jahren …*

              * Kolumne für die Wochenzeitung “Demokratischer Widerstand” v. 19. Nov. 2022, S. 14

Der Theologe Hans Bruns (1895 – 1971) hatte 1937 die Frage gestellt: „Wo sind wir in hundert Jahren?” – Ja, wo sind wir im Jahre 2122? Irdisch betrachtet: tot, allesamt. Unter anderem Blickwinkel könnte die Antwort sein: entweder an Gottes Seite oder fern von ihm. Wer in seinem irdischen Dasein unbedingt, auf Teufel komm raus, ohne Gott leben wollte, ohne den auferstandenen Christus, dessen Begehren wird in Erfüllung gehen. Gott drängt sich keinem auf. Auch die, die immerfort „Herr, Herr!” rufen, sind keinesfalls auf der sicheren Seite.

Je mehr wir uns hier auf Erden einrichten, es uns bequem machen im jeweiligen Gesellschaftssystem, umso ferner der Himmel. Gottes ewiges Reich hat mit irdischen Reichen nichts gemein, es ist ist das Ende aller irdischen Macht. Gott hat im Zeitenlauf immer wieder gezeigt, wer der Herr der Geschichte ist. Reiche, die sich mächtig dünken, steigen auf und verfallen wieder. Zwei Großmachtgebilde sind allein im vergangenen Jahrhundert zerbrochen, vergehen wird auch, was jetzt als globale Dikta-tur im Anzug ist. Groß ist die Versuchung der Macht, wer ihr nachgibt, sich daran ergötzt, hat den eigenen Untergang schon beschlossen.

Der Widersacher spielt sich auf als Weltregisseur, setzt sich an die Spitze der Machtpyramide. Menschen zu unterjochen, ihnen die Freude zu nehmen, und vor allem: sie in die Gottferne zu stoßen, ist sein Beruf. Er freut sich an jedem Übel, jedem Machtgelüste, jeder Gotteslästerung. Und an jedem Kind, das in Verachtung des Gottesglaubens aufwächst.

Nimm Deinem Kinde sein natürliches Gottvertrauen und Du hast ihm das Kostbarste genommen im Leben. Nicht alles, worauf wir stolz sind (ein starkes, gott-widerständiges Ich) dient zum Guten. Lassen wir doch den Menschen, der ein Bewusstsein eigener Sünde hat, am Bußtag Gott um Vergebung bitten, und lassen wir ihm am Ewigkeitssonntag sein Gottvertrauen und die schlichte Hoffnung auf beständige Gottesnähe, einst. Ohne diese Hoffnung möchte ich nicht leben, nicht sterben.

13. Nov. 2022

In hundert Jahren …*

              * Kolumne für die Wochenzeitung “Demokratischer Widerstand” v. 19. Nov. 2022, S. 14

Der Theologe Hans Bruns (1895 – 1971) hatte 1937 die Frage gestellt: „Wo sind wir in hundert Jahren?” – Ja, wo sind wir im Jahre 2122? Irdisch betrachtet: tot, allesamt. Unter anderem Blickwinkel könnte die Antwort sein: entweder an Gottes Seite oder fern von ihm. Wer in seinem irdischen Dasein unbedingt, auf Teufel komm raus, ohne Gott leben wollte, ohne den auferstandenen Christus, dessen Begehren wird in Erfüllung gehen. Gott drängt sich keinem auf. Auch die, die immerfort „Herr, Herr!” rufen, sind keinesfalls auf der sicheren Seite.

Je mehr wir uns hier auf Erden einrichten, es uns bequem machen im jeweiligen Gesellschaftssystem, umso ferner der Himmel. Gottes ewiges Reich hat mit irdischen Reichen nichts gemein, es ist ist das Ende aller irdischen Macht. Gott hat im Zeitenlauf immer wieder gezeigt, wer der Herr der Geschichte ist. Reiche, die sich mächtig dünken, steigen auf und verfallen wieder. Zwei Großmachtgebilde sind allein im vergangenen Jahrhundert zerbrochen, vergehen wird auch, was jetzt als globale Dikta-tur im Anzug ist. Groß ist die Versuchung der Macht, wer ihr nachgibt, sich daran ergötzt, hat den eigenen Untergang schon beschlossen.

Der Widersacher spielt sich auf als Weltregisseur, setzt sich an die Spitze der Machtpyramide. Menschen zu unterjochen, ihnen die Freude zu nehmen, und vor allem: sie in die Gottferne zu stoßen, ist sein Beruf. Er freut sich an jedem Übel, jedem Machtgelüste, jeder Gotteslästerung. Und an jedem Kind, das in Verachtung des Gottesglaubens aufwächst.

Nimm Deinem Kinde sein natürliches Gottvertrauen und Du hast ihm das Kostbarste genommen im Leben. Nicht alles, worauf wir stolz sind (ein starkes, gott-widerständiges Ich) dient zum Guten. Lassen wir doch den Menschen, der ein Bewusstsein eigener Sünde hat, am Bußtag Gott um Vergebung bitten, und lassen wir ihm am Ewigkeitssonntag sein Gottvertrauen und die schlichte Hoffnung auf beständige Gottesnähe, einst. Ohne diese Hoffnung möchte ich nicht leben, nicht sterben.

13. Nov. 2022

Advent:  Ankunft hat ein Gesicht

Ankommen, sich einfinden, eintreffen, erscheinen … Es ist etwas Wunderbares anzukommen, wenn der Weg ein Ziel hat und man sich auf die Ankunft freut. Mancheiner ist weit von der Heimat seiner Kindheit entfernt, aber zu Weihnachten drängt es ihn – nach Haus. Und er setzt sich in den Zug oder ins Auto, legt eine weite Strecke zurück, um endlich anzukommen am Heimatort.  Heimat ist, wo meine Familie lebt oder in früheren Tagen gelebt hat. Heimat – das kann eine Stadt sein oder ein Dorf, eine Landschaft, eine Wohnung. Ja, irgendwo ankommen, endlich, wo ich zu Hause bin, mich zu Hause fühle, auch wenn ich keine letzte Heimat habe in der Zeit.

Selbst ankommen, ein Ziel erreichen, wo wir von vertrauten Menschen erwartet wer-den, ist das eine. Aber vielleicht warten wir auch darauf, dass ein anderer ankommt, auf den wir uns freuen.  Ein Vater wartet am Tage vor dem Heiligen Abend am Bahn-steig auf die Ankunft seiner Tochter, die er viele Jahre, vielleicht seit ihrer Kindheit, nicht mehr gesehen hat. Eine schwangere junge Mutter erwartet im Advent, noch kurz vor Weihnachten, die Ankunft ihres Kindes. Eine alte Frau im Pflegeheim freut sich auf das Kommen, auf den ersehnten Besuch ihres Sohnes. Da hat Ankunft ein Gesicht. Zur Weihnachtszeit erwarten wir alle etwas Frohes, Helles und tiefen inneren Frieden. Wenn es nur etwas ist, namenlos, gesichtslos, unbestimmt, entgleitet es uns schnell. Freude braucht ein lebendiges Gegenüber, dem ich mich zuwenden kann.

Weihnachten verdanken wir der christlichen Überlieferung, alle Umdeutung geht letztlich ins Leere. Weihnachten ist weit mehr als nur ein Fest des Friedens und der Beschaulichkeit. Ein tief inneres Beteiligtsein, Ergriffensein, Angesprochenwerden von einer höheren Kraft, die mein Herz berührt. Ein Konzert geistlicher Musik im Advent ist  mehr als nur ein schöner Klang, das Krippenspiel am Heiligen Abend, von unseren Kindern aufgeführt, mehr als ein Theaterstück. Mancheiner sucht vielleicht wirklich nur Unterhaltung, etwas Stimmungsvolles zum Fest, und lässt sich das in der Kirche bieten, auch wenn er sonst das ganze Jahr dort nicht hingeht. Am Heiligen Abend wird in der Kirche allerhand verkündet und gesungen. Schnell den Abschalt-Filter heraus: „Glaube und Gott interessieren mich nicht” – also kein Interesse an der Substanz des Ganzen. Dann hört einer die Botschaft und hört sie nicht, sieht das Spiel von Christi Geburt und sieht es nicht, hat alle seine Vorurteile mitgebracht, nur ein paar Äußerlichkeiten wahrgenommen, letztlich nichts gehört, nichts gesehen. Dabei war er ungeahnt doch selbst mit in dem Spiel, hat als Hirt vor der Krippe die Knie gebeugt mit seiner Sehnsucht nach Heimat, nach einem Gesicht der Erlösung. Im Herzen die Freude: Gott ist Mensch geworden, hat sich mir gezeigt …

20. Nov. 2022

O Weihnacht, o Heilige Nacht …

O Weihnacht, o Heilige Nacht.
Wer Dich nicht mag …,
den rufe ich zu meiner Freude.
Mit Euch allen möchte ich
das Fest der Christgeburt feiern.

Mit dem Agnostiker und der entschiedenen Atheistin,
mit dem Theologen-Freund,
der so ganz anders denkt als ich und dem ich doch
im Herzen nahe bin.

Lasst uns miteinander
zur Krippe gehen,
zu dem Ort der Wahrheit, der Gerechtigkeit,
des wahren Friedens.

Du wirst mich nicht enttäuschen, Freund,
an der Krippe werden wir nicht streiten
nur die Knie beugen,
sonst nichts.

Unsere Herzen werden offen sein,
ohne Arglist, ohne dieses: Ich habe Recht …
Wie schön und klar leuchtet uns
der Morgenstern in lichtheller
Heiliger Nacht.

Wenn Gott uns rufen wird, einst,
aus diesen Erdentagen,
kommt  uns mit ruhigem Schritt
der Ewige entgegen.

Ihr Menschenkinder, was habt Ihr Euch geplagt
in Eurer Erdenzeit.
Habt Ihr auch nach mir geschaut, gefragt?
Leichter wär’s Euch da geworden …

20. Nov. 2022

In dulci jubilo. In süßem Jubel*

Nun singet und seid froh,
jauchzt alle und singt so:
Unsers Herzens Wonne
liegt in der Krippen bloß
und leuchtet als die Sonne
in seiner Mutter Schoß.
Du bist A und O,
du bist A und O.

Sohn Gottes in der Höh,
nach dir ist mir so weh.
Tröst mir mein Gemüte,
o Kindlein zart und rein,
durch alle deine Güte,
o liebstes Jesulein,
Zieh mich hin zu dir,
zieh mich hin zu dir.

Groß ist des Vaters Huld,
der Sohn tilgt unsre Schuld.
Wir warn all verdorben,
durch Sünd und Eitelkeit,
so hat er uns erworben
die ewig Himmelsfreud.
O welch große Gnad,
o welch große Gnad!

Wo ist der Freuden Ort?
Nirgends mehr denn dort,
da die Engel singen
mit den Heilgen all
und die Psalmen klingen
im hohen Himmelssaal.
Eia, wärn wir da,
eia wärn wir da.

* Nach einem mittelalterlichen Lied aus dem 14 Jahrhundert

(vgl. Evang. Gesangbuch, Berlin: Eva, 1993, Nr. 35).

Fröhlich soll mein Herze springen

                    dieser Zeit, da vor Freud

                    alle Engel singen.

          Hört, hört, wie mit vollen Chören

          alle Luft laute ruft:

          Christus ist geboren!

                    Heute geht aus seiner Kammer

                    Gottes Held, der die Welt

                    reißt aus allem Jammer.

                    Gott wird Mensch dir, Mensch, zugute,

                    Gottes Kind, das verbindt

                    sich mit unserm Blute.

                    Die ihr schwebt in großem Leide,

                    sehet, hier ist die Tür

                    zu der wahren Freude,

                    faßt ihn wohl, er wird euch führen

                    an den Ort, da hinfort

                    euch kein Kreuz wird rühren.

                    Paul Gerhardt 1653. Das Lied hat 12 Strophen, ausgewählt sind hier

                        die Strophen 1, 2 u. 7 (vgl. Evang. Gesangbuch, Berlin 1993, Nr. 36).

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