Eröffnung
Im Advent häufen sich die Termine, wer findet da noch Zeit für die WendeBlätter. Ausgabe 59 wurde im Wesentlichen am Bußtag zusammengestellt, also noch vor dem Ende des Kirchenjahres. Das neue Kirchenjahr beginnt mit dem 1. Sonntag im Advent. Wer diese Blätter im Advent nicht lesen kann, findet vielleicht nach den Weihnachts-tagen eine ruhige Stunde. Der Weihnachtsfestkreis geht ja vom 24. Dez. bis zum 06. Januar – auch für den, der im Arbeitsleben steht, kann da im Innern Weihnachten sein …
Vorgestellt werden in dieser 59. Ausgabe der WendeBlätter 2020 Erinnerungen meines Vaters Ernst Rudolf Zenker (1923–2017) zum Jahre 1942/43 und zwei Textentwürfe theologischer Art [in ungekürzter, ungeschützter Rohfassung] aus meiner Feder: eine Andacht zum Tage der Heiligen Cäcilia (22. Nov.) und eine Botschaft zum Ersten Advent. Mögen uns diese Texte, über alle Weihnachts-Sentimentalität hinaus, Weih-nachten empfinden lassen. Die Reflexionen zur Heiligen Cäcilia (150–229/30) muten manchem vielleicht befremdlich an, waren aber auch für mich eine Chance, einen mir sonst wenig vertrauten Bereich kennenzulernen. Am Horizont die Frage: was uns heute überhaupt noch heilig ist.
Ich wünsche den Lesern der WendeBlätter eine gesegnete, von Herzensfreude erfüllte Advents- und Weihnachtszeit. – Hört den Chor der Engel!
Herzlich grüßt und dankt
Euer
Gert Zenker
Sebnitz, am Bußtag 2024
Gert Zenker: Andacht zum Tag der Heiligen Cäcilia (22. Nov.)*
* Notizen zu einer Andacht v. 21. Nov. 2024 in Sebnitz.
Die Heilige Cäcilia ruft zur Andacht, dass wir am Vorabend des 22. Nov. an sie denken, ihre Botschaft hören. Heilig, heilig, heilig – ein Sanctus singen wir im Anschluss. …
Märtyrer als Wort- und Blutzeugen
Als Heilige, als Menschen die in einer besonderen Gottesbeziehung lebten, ein so starkes Gottvertrauen hatten, dass es auch gegenüber Leid und Tod standhielt, galten zunächst die Märtyrer der ersten christlichen Jahrhunderte (bis zur konstantinischen Wende von 311). Märtyrer waren vor allem Wortzeugen, und eben, weil sie bei Gottes Wort blieben, und dem Gott-Kaiser nicht opfern wollten, wurden sie zu Blutzeugen des Glaubens. Glaube und Opferwilligkeit, Leidenswilligkeit, gehörten damals eng zusammen. Das sollte unseren müden, angepassten und wohlstandsgewohnten Kirchen zu denken geben.
Gnade Gott den Kirchen
Gnade Gott den Kirchen, samt ihren Bischöfen, die sich aus dem Bereich des Heiligen herausbewegen, das Wort Gottes an die Welt verraten und dem Profanen, dem Welthaften zu Munde reden, indem sie Sünde und Kreuz, Auferstehung, letztes Gericht und ewiges Leben relativieren oder ganz weglassen wollen. Es gibt diese Tendenz.
Von solchem Verrat an den Zeitgeist sind die Großkirchen, ob evangelisch oder kataholisch, ebenso gefährdet wie die freien Gemeinden. In den Synoden sitzen ja alles Menschen (Theologen inbegriffen) – Menschen, die weitgehend vom Zeitgeist beeinflusst sind, der ein durch und durch atheistischer ist und uns einflüstern, ja vorschreiben will, was wir als Christen zu glauben und zu denken haben.
Was als Wort Gottes verkündigt werden darf und was nicht, kann eine Synode nicht entscheiden, ist keine Sache demokratischer Abstimmung. Am Ende stimmen wir noch darüber ab, ob Gott sei oder nicht sei …
Heilig, nicht sündlos
Als Heilige verehrt man auch die Apostel und Evangelisten, Kirchenväter, Maria als Gottesmutter natürlich und Märtyrer späterer Zeit (Maximilian Kolbe). – Heilig bedeutet nicht sündlos. Das sollte man nicht verwechseln. Heilige waren von Gott her, der allein wahrhaft heilig ist, besonders gesegnete Menschen, die ER in seinen heiligen Bezirk hineingenommen, hineingerufen hat. Uns als communio sanctorum, als Gemeinschaft der Heiligen (wie wir im Credo bekennen), nicht der Sündlosen, sondern der von Gott geheiligten Glieder der Kirche Jesu Christi – sind die Heiligen Vorbilder und Mahner, sie vermitteln uns eine Botschaft.
Was meine innere Beziehung zu den Heiligen betrifft, so halte ich mich an diese Faustregel, die ich einmal als Inschrift in der Zittauer Frauenkirche entdeckt habe: Maria veneranda non adoranda. Zu verehren, nicht anzubeten. Aber ich bin als Protestant durchaus bereit, die Heiligen – auch Luther hat sie verehrt – noch posthum als Fürsprecher bei Gott zu verstehen, wenn wir uns vorstellen, dass sie nach ihrem Tode unmittelbar aufgenommen wurden in das Reich des Himmels, an Gottes Seite. Im Laufe der Zeit haben sich den Heiligentagen volkstümliche Bräuche angeheftet. Meine katholische Großmutter rief immer den Heiligen Antonius an, wenn sie etwas suchte. Im Mittelalter hatten die Heiligenfeste derart überhand genommen, dass sie die Hauptfeste überwucherten und eine Reduzierung erfolgen musste.
Die Heiligen im Kalender
Man könnte viel erzählen von den Heiligen, auf jedem Tag stehen mehrere Namen. Einige Tage – Ihr wisst das als Katholiken besser als ich – stechen besonders hervor im letzten Viertel des Kalenderjahres: der Michaelistag am 29. Sept. (Tag des Erzengels Michael und aller Engel, zugleich Höhepunkt und Ende des bäuerlichen Jahres), Allerheiligen am 01. Nov., Martini am 11. Nov. (zugleich Tauftag Martin Luthers). – Barbara (04. Dez.), Nikolaus (06. Dez.), Maria (Mariä Empfängnis am 08. Dez.) und Lucia (13. Dez.) sind die Heiligen des Advent. Im Weihnachtsfestkreis feiern wir den Tag des Heiligen Apostels und Evangelisten Johannes (27. Dez.) und letzendlich, nicht zu vergessen, den Tag des Hl. Silvester am 31. Dezember.
Mittendrin steht der Tag der Heiligen Cäcilia am 22. November. Cäcilia ist die Schutzheilige der Kirchenmusik, oft mit einer Orgel dargestellt. Der 1868 in Bamberg gegründet Cäcilienverband für Deutschland (mit Sitz in Regensburg) vertritt als Dachverband 15.000 katholische Chöre. Da gehören auch wir mit dazu.
Was ist Liebe?
Das war alles Vorrede – und mehr als nur Vorrede. Kommen wir auf den Punkt. Wie setzen wir an, wenn es um die Heilige Cäcilia geht? – Mit der banalen Frage, der Pilatusfrage zur Wahrheit ähnlich: Was ist Liebe? Ein abgedroschenes Thema, ich bin da auch kein Spezialist, aber wenn wir von Cäcilia sprechen, muss diese Frage ernsthaft gestellt werden. Liebe ist etwas sehr Schönes, Hohes – und wenn sie scheitert: ein Abgrund des Leids. Besonders für die Kinder, auf die wenig Rücksicht genommen wird, wenn die Eltern sich nicht mehr verstehen. Die Kinder werden nicht gefragt, Erwachsene – Frau und Mann – sind da sehr egoistisch, nur auf sich, auf das eigene Recht bedacht. Bei den Protestanten ist heute jeder zweite Pfarrerehre geschieden … Ein enttäuschender Fakt, an dem auch ich Anteil habe.
Gott oder Zeitgeist?
Gott ist Liebe. Das wäre die einfachste, klarste Antwort auf unsere Frage. Aber damit gibt sich der Mensch nicht zufrieden. Was Liebe sei, was sie zu sein hat, bekommen wir heute vom Zeitgeist erzählt, von dessen Gift wir alle mehr oder weniger infiziert sind. Da herrscht in breiter Front die Ideologie der 68er Bewegung: schrankenlose Liebe, freie Sexualität, die verhängnisvolle Reduktion von Liebe auf das Körperliche. Darunter als Folie: die Gottlosigkeit. Ich denke: von dem, was uns der Zeitgeist, durch die Medien vermittelt, als Begriff von Liebe einflößt, ist – nach biblischen Maßstab – so gut wie alles falsch. Irriges Gottesbild, irriges Menschenbild und ein bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Bild von Liebe.
Konsequenzen eines schöpfungsfernen Menschenbildes
Ein Resultat (aus dem Leben gegriffen) ist dieses: da lernen sich zwei Menschen kennen, steigen bald in die Kiste miteinander, wie das so üblich ist, machen Liebe (die man doch nicht machen, sich nur schenken lassen kann). Und plötzlich das Erwachen:
„Ei, das hätten wir nicht gedacht, da kann ja ein Kind werden dabei! Das passt uns aber jetzt gar nicht. Wir studieren gerade, wollen uns selbst verwirklichen,bald ein Haus bauen.“
Und dann bringen sie das Kind um die Ecke, zur nächsten Abtreibungsklinik. – Das ist hart, gnadenlos, aber so sind die Auswirkungen des Zeitgeistes. Wenn das Fleischliche über das Geistige herrscht, das Profane über das Heilige Wunder der Schöpfung.
Wunderwerke der Schöpfung
Unter den Todesursachen weltweit schlägt der Tod durch Abtreibung mit horrenten 50 % zu Buche. Und da gibt es doch Menschen, auch in unserem Lande, die erstreben eine Freigabe BIS ZU EINEM TAG VOR DER GEBURT. Das ist in den 60er Jahren, in den USA, schon einmal traurige Realität gewesen (ich will das nicht näher ausmalen). Ein Horror! – Wer das kritisiert und gar in Verbindung bringt mit anderen traurigen Ereignissen der Geschichte, wird in eine böse Ecke gestellt, als sei er von gestern. Die Dinge sind völlig verdreht in diesem Neo-und Trans-Humanismus, aus gut wird böse und aus böse macht man gut.
Anders gesprochen: Wir sind ja auch nicht prüde, wissen wie das geht mit Männlein und Weiblein, welche Verrenkungen da nötig sind und wie die Kinder werden, diese Wunderwerke der Schöpfung! In der Welt – Paulus warnt uns* – herrscht das Fleischliche vor. Um es drastisch, mit einem Aphorismus, zu sagen: Wir leben in einer Welt, wo die Frage, wieviel Samenflüssigkeit ein Elefant im Vergleich zum Menschen produziert, mehr Interesse weckt als die Frage, ob einer genug Brot hat. – Wir dürfen uns da nicht verführen lassen. Cäcilia mahnt uns. * Vgl. 1 Kor 5,9–13.
Heiliges und Profanes
Zwischen dem Heiligen und dem Profanen besteht ein klarer Unterschied. Wir können Gott und das Heilige nicht mit den Maßstäben der Welt beurteilen. Das Heilige Abend-mahl ist etwas anderes als das Abendbrot am Familientisch, die Taufe etwas anderes als eine warme Dusche, die Beichte etwas anderes als ein vertrautes Gespräch mit einem Freunde. Man kann es vergleichen und ist doch nicht dasselbe. Zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen Gott und Mensch ist ein „unendlicher quali-tativer Unterschied“, wie Kierkegaard sagt. Von Gott kann man nicht hoch genug denken, die Majestät Gottes nicht genug achten. Menschen denken oft viel zu gering von Gott und urteilen dann über ihn mit diesem engen Gottesbegriff. Auch Gott sperren wir ein in unsere engen leiblichen Vorstellungen. In Jesus ist Gott Mensch geworden (Deus homo factus est). Und doch bleibt Gott – Gott.
Wir leben in einer Welt, in der – wie schon bei den Römern – alles vom Körperlichen her gedacht wird und Dinge, die man nur geistlich behandeln kann, auf das Körperlich-Materielle heruntergezogen werden. Alles richtet sich nach den Bedürfnissen des Leibes, essen, trinken, körperliche Nähe, Wohlbefinden, Erhaltung des Leibes um jeden Preis, Gesundheit als Götze.
Cäcilias Geschichte oder Die Umkehrung der Denkrichtung
In das beschriebene ethische Chaos trifft mahnend die Botschaft der Heiligen Cäcilia, die uns hilft, über den engen irdischen Horizont hinauszuschauen. Cäcilia hat nämlich genau umgekehrt gedacht und gehandelt, hat sich an einem höheren Begriff von Liebe orientiert, das Körperliche vom Geistigen her betrachtet,. Und das mit aller Konse-quenz, unter Einsatz ihres gottgeschenkten irdischen Lebens. – Damit sind wir am Punkt.
Cäcilias Geschichte ist diese: Geboren um das Jahr 150 in Rom wurde sie als Tochter wohlhabender Eltern mit einem heidnischen jungen Mann namens Valerian aus vornehmem Hause verheiratet. Die Eltern hatten das so bestimmt. Im Herzen hatte Cäcilia aber längst ihren Bräutigam gefunden und ihm Treue versprochen.
Die Hochzeit mit Valerian wurde im großen Stile gefeiert. In der Hochzeitsnacht gesteht Cäcilia, dass sie längst mit einem anderen verlobt sei: mit Christus selbst. Ein Engel stehe neben ihr, der sie vor Valerians Begehren schützen würde. Valerian fühlte sich als Betrogener und verlangte, den Engel zu sehen. „Du wirst ihn sehen, sobald du ein Christ bist“, entgegnete ihm Cäcilia. So ging Valerian bei Papst Urban in die Schule und wurde schließlich getauft. Da sah er den Engel, das Kleid schneeweiß, in der einen Hand einen Kranz von Lilien (für die Braut), in der anderen einen Kranz von Rosen (für den Bräutigam).
Himmlische Liebe unter dem Schwert
So hatten beide eine himmlische Liebe gefunden, die stand ganz oben, an erster Stelle. Jetzt feierten sie eine wahrhaft himmlische Brautnacht. Vielleicht war das Körperliche dann doch dabei, aber mit einer ganz anderen, höheren Sinngebung und Erfüllung.
Dieses Glück der beiden war irdisch betrachtet nur flüchtiger Natur. Valerian hatte seinen Bruder Tiburtius zum christlichen Glauben bekehrt, beide wurden in der ausbrechenden Christenverfolgung ihres Glaubens wegen hingerichtet. Cäcilia selbst versuchte man in einem Dampfbad zu ersticken, als das misslang, verurteilte man sie zur Enthauptung. Drei Schwerthiebe führte der Scharfrichter aus, erzählt die Legende, und Cäcilia lebte immer noch – bis sie im Jahre 229/230, nach drei schmerzvollen Tagen, in Gottes Reich gerufen wurde. Der Legende nach hat man Jahrhunderte später ihre Grabstelle entdeckt. Ihr Leichnam war unverwest, am Halse sah man noch die Spuren der drei Schwerthiebe.
Cäcilia oder die Gewalt der Musik (Kleist)
In dem Text: „Cäcilia oder die Gewalt der Musik. Eine Legende“ erzählt Heinrich von Kleist (1777–1811) eine Begebenheit aus dem 16. Jahrhundert, zur Zeit der Bilder-stürmerei. Da waren vier Brüder, Niederländer, die in Wittenberg studiert hatten und in Aachen, in weinseliger Laune, auf die Idee kamen, die Klosterkirche zu schänden. Die Nonnen führten in großer Angst eine uralte italienische Messe auf. Die Wirkung der Musik war derart, dass sie die vier Bilderstürmer und ihre zahlreiche, mit Beilen bewaffnete Rotte, vom Zerstörungswerk abhielt. Die vier Brüder waren dann lange verschollen. Ihre Mutter fand sie später in einem Irrenhause wieder, wo sie den ganzen Tag, froh gestimmt, in Anbetung eines Kreuzes verbrachten. Die Welt hatte sie für verrückt erklärt, was die Brüder nicht bekümmerte.
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Die Heilige Cäcilia, die spätere Patronin der Sänger und Musiker, hat uns vorgelebt bis zur letzten Konsequenz, was es heißt, das Heilige über das Profane zu stellen, den Glauben über die Meinungen und Erwartungen der Welt, die Gottesliebe über alles, was sich hier auf Erden Liebe nennt. – In Verehrung gedenken wir ihrer und singen im Chor den Lobpreis Gottes.
Sanctus. Fürbitte. Vater unser. Luthers Liedstrophe: Verleih uns Frieden gnädiglich. Segen.
18./22. Nov. 2024
Friedrich Adolph Krummacher (1767–1845): Lobgesang
1.
Empor zu Gott, mein Lobgesang!
Er, dem das Lied der Engel klang,
der hohe Freudentag ist da.
Lobsinget, Gottes Heil ist nah!
2.
Vom Himmel kam in dunkler Nacht,
der uns des Lebens Licht gebracht;
nun leuchtet uns ein milder Strahl
wie Morgenrot im dunklen Tal.
3.
Er kam, des Vaters Ebenbild,
vom armen Pilgerkleid umhüllt,
und führet uns mit sanfter Hand,
ein treuer Hirt, ins Vaterland.
4.
Er, der im Himmel herrlich thront,
hat unter uns als Mensch gewohnt,
damit auch wir ihm werden gleich
auf Erden und im Himmelreich.
5.
Er leitet auf des Himmels Bahn
uns, seiner Brüder Schar hinan
und wandelt unser Pilgerkleid
in Sternenglanz und Herrlichkeit.
6.
Empor zu Gott, mein Lobgesang!
Er, dem der Engel Lied erklang,
der hohe Freudentag ist da.
Lobsinget, Gottes Heil ist nah.
* Schlesisches Provinzial-Gesangbuch, Breslau: Verlag von Wilh. Gottl. Korn, 1934, Nr. 19 (nach der Melodie: „Vom Himmel hoch da komm ich her“).
Gert Zenker: Botschaft zum 1. Advent 2024*
* Vgl. Anm. S. 15 unten.
Liebe Adventgemeinde, liebe Sänger,
Weihnachten, das Fest der Christgeburt, wurde vermutlich schon seit Mitte des 3. Jahrhunderts in mancherlei Form gefeiert; eine erste Weihnachtsmesse gab es am 25. Dezember des Jahres 336 in Rom. Der Begriff Weihnachten (von mhd. wih = heilig) ist aus dem Jahre 1170 erstmals bezeugt. Wir gebrauchen beide Worte: Weihnachten und Heilige Nacht (Lat. nox sacra).
Buchstäblich Gestalt gewann die Geburtsgeschichte aus dem Evangelium des Lukas, Kapitel 2 schon im 10. Jahrhundert, in den mittelalterlichen Weihnachtsspielen, die aus der liturgischen Messfeier hervorgegangen waren und alsbald weite Verbreitung und volkstümliche Ausschmückung fanden.
Ein solches Weihnachtspiel (was wir heute Krippenspiel nennen) ist aus dem Jahre 1232 überliefert, wo Franz von Assisi eine Höhle in den Berge Umbriens als Stall von Bethlehem ausstatten ließ, um den einfachen Bergbewohnern die Weihnachts-geschichte nahezubringen, ihnen zu sagen, was auch heute gesagt werden muss: Ihr seid keine Zuschauer, Ihr seid da mittendrin (als Hirten zum Beispiel, die vor dem Kind in der Krippe knien / nicht gerade als Ochs und Eselein, manchmal fühlt man sich so). Da waren Maria und Joseph mit dem Christkind, da waren die Hirten, da brachten die Bauern der Umgebung ihre Schafe, Ochs und Esel aus ihren Ställen, dazu Heu und Stroh. Figürlich-starre Krippendarstellungen in den Kirchen gibt es seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Von daher unsere Weihnachtskrippe.
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Hervorzuheben ist der volkstümliche Charakter, die manchmal ausufernde, Blüten treibende Auschmückung der mittelalterlichen Weihnachtsspiele mit Begebenheiten aus dem Alltag. Besonderen Beifall fanden dabei immer die mitunter recht derben Dialoge der Hirten – so in dem Stile:
„Du, da ist ein Licht am Himmel und ich seh einen Engel!“ – „Dir sternelt‘s wieder. Sauf nicht so viel!“ – Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens … (Lukas 2).
Dieser Chor der Engel ist seitdem nicht wegzudenken. Ich stelle mir vor, dass unzählige Engel unsichtbar auch jetzt hier in diesem Kirchenraum bei uns sind. Und nimmt man alle Chöre unserer Erde zusammen, die zur Weihnachtszeit die Geburt des Heilands, des Weltenretters, besingen, so ist das ein gewaltiges Gotteslob, die Bündelung einer großen Weihnachtsfreude. Hört diesen Chor und singt, mit dem Herzen kann jeder singen!
Wichtig ist, dass wir auch im häuslichen Kreise ein Teil dieses großen himmlischen Chores bleiben. Von früheren Zeiten, sagen wir vor 120 Jahren, im Anfang des 20. Jahrhunderts (ich will nichts idealisieren), wird berichtet, wie Jung und Alt in kindlicher Freude sich auf das Christfest vorbereiteten. An den Adventssonntagen saßen die Kinder um den Tisch, bastelten und stimmten sich in die Advents- und Weihnachtslieder ein, die ihnen die Mutter und Großmutter vorsangen. Und der Vater, von dem es hieß, er könne nicht singen, brummte im Baß irgendwie mit.
Wenn dann am Heiligen Abend die Tür zur Weihnachtsstube sich öffnete, wie freute man sich da am Licht des Christbaums. Und wieder wurde gesungen! Mit der Zeit kamen da viele Lieder zusammen, deren Melodie und Text die Kinder bald auswendig wussten, einfach durch Mitsingen. Was war das für ein Schatz! Und sehr früh am Morgen, noch in der Nacht, ging es dann bei klirrendem Frost in die alte Kirche hier in Sebnitz, wo im Schein hunderter Kerzen die Sebnitzer Mettenmusik gesungen und von einem Orchester begleitet wurde.
Ich denke und hoffe sehr, dass einmal diese Zeit kommen wird, wo wir das Singen (auch zu Hause, im kleinen Kreis) als etwas Kostbares, dem Herzen Heilsames, Rettendes wiederentdecken. Die Musik allein aus der Konserve tut es nicht, kann das Singen nicht ersetzen …
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Nun, was fühlen, was empfinden wir zur Advents- und Weihnachtszeit? – Sehnsucht vor allem. Wir pflegen Erinnerungen, hängen der Kindheit nach, sofern wir da gute Tage hatten. Wir suchen nach Weihnachtsfreude und finden doch immer nur einen Teil unserer Sehnsucht. Manchen treibt es gar fort in andere Länder.
Jetzt im beginnenden Advent sind wir alle auf der Suche nach dem, was Weihnachten für uns ist, was es für uns sein könnte. Vielleicht kann uns der Chor hier vor Ort mit seinem Gesang einen Teil unserer Sehnsucht erfüllen. Die Musik ist ein himmlisches Gut.
Um es mit Martin Luther zu sagen (so zu lesen auf der Orgelempore der evangelischen Kirche in Sebnitz):
„Wer sich die Musik erkiest / hat ein himmlisch Gut gewonnen / Denn ihr erster Ursprung ist / von dem Himmel hergekommen / Weil die lieben Engelein / selber Musikanten sein.“ * Erkürt, erwählt.
Alles, was sich für uns im Äußerlichen mit dem Christfest verbindet: das Licht am Adventskranz und am Weihnachtsbaum, der Herrnhuter Stern über der Tür, der Bratenduft, der Geschmack von Glühwein und Punsch, behagliche Ofenwärme, der Räuchermann, die Pyramide aus dem Erzgebirge und sanfte Flocken vor dem Fenster – wir wollen es nicht geringschätzen. Darin liegt eine tiefe Sehnsucht nach wahrer Heimat, nach Geborgensein, stiller Freude. Nach einer Zeit, wo das Herz endlich einmal Ruhe findet. Es ist die Sehnsucht nach einem Stück heiler Welt in all der Zerrissenheit unseres Erdendaseins.
Was diese Verbindung von Weihnachten mit dem Schnee betrifft, wir wollen sie stehen lassen. Wie haben wir als Kinder gejubelt in der Schule, wenn vor dem Klassenfenster der erste Schnee fiel. Alte Leutchen haben freilich ihre Not damit. Und wer vor rund 80 Jahren – und in der Gefangenschaft danach – den russischen Winter erlebt hat (diese Generation ist jetzt ausgestorben), konnte sich später beim Anblick des Schnees kaum noch unbefangen freuen. Einem in Zentralafrika Geborenen unsere Schneeromantik völlig fremd. Und dennoch: Schnee gehört dazu in unseren Breitengraden. Auch wir vom Bersteigerchor besingen dieses in der Wintersonne funkelnde Weiß, rollen in Gedanken mit dem Sonderzug hinauf ins schneebedeckte Bergland … Und da steht mit Sicherheit auch – eine Kirche.
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Was ist denn nun die wichtigste Tradition, das Bleibende, wenn man so will: das Nachhaltige am Weihnachtsfest? Etwas, warum Weihnachten gefeiert werden wird, solange es Menschen gibt auf Erden. Sollte man das je verbieten, werden es Christen der Bekennenden Kirche im Verborgenen dennoch tun … Das Bleibende, Beständige des Christfestes ist, von den Äußerlichkeiten einmal abgesehen – dieses Aufbegehren, die Erscheinung eines höheren Lichtes, von Gott her, gegen alle Finsternisse dieser Welt, auch die Finsternis des menschlichen Herzens.
Hier greifen wir die Weihnachtsbotschaft des Johannesevangeliums auf, wo im 1. Kapitel, dem sog. Prolog, geschrieben steht:
Am Anfang war der Logos, das göttliche Wort … In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht für die Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen [kann‘s nicht auslöschen] … Das Wort ward Fleisch, nahm in Christus Menschengestalt an.
Diese Epiphanie, das Erscheinen des ewigen Lichtes gegen die Finsternisse dieser Welt, das ist das Bleibende, allen vergangenen und künftigen Weihnachtsfesten Gemeinsame.
Was immer auf dieser Welt oder im eigenen Leben geschehen mag, wir feiern Weihnachten als den Sieg des Lichtes über die Finsternis. Auch wenn es uns hart erginge, uns alles Zubehör, das wir mit Weihnachten verbinden, genommen wäre, gar die Gesundheit, so kann doch die Weihnachtsfreude im Herzen ihren Platz behalten. Welchen Trost hat doch die Madonna von Stalingrad – eine schlichte, im Schützengraben, inmitten des Elends entworfene Grafik – den Menschen gebracht, die Tag für Tag dem Tod ins Auge sehen mußten.
Die Botschaft der Madonna von Stalingrad war wie die der Engel: Natus est Christus Salvator mundi, geboren ist Christus, der Heiland, der Retter der Welt. Oder, um es mit Jesaja, einem Propheten aus dem Alten Testament zu sagen:
„Das Volk. das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finsteren Lande, scheint es hell … Denn uns ist ein Kind geboren …, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter, und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Friedefürst …“* * (vgl. Jes. 9,1.5).
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Auf dieses Ereignis, das mehr ist als nur ein vages Gefühl, gehen wir zu im Advent. Folgen wir mit unseren Herzen dem Licht, der Hoffnung, dem Stern, der uns zur Krippe führt. Was wäre Weihnachten ohne das Kind in der Krippe, ohne die Heilige Familie, ohne den Stern von Bethlehem, ohne Hirten und die Weisen aus dem Morgenlande? Was bliebe da noch übrig? – Ein Fest des Schenkens …
Aber woher die Freude, die uns zum Schenken leitet? Da muss Tieferes sein, wir können es nicht fassen: Rettung, Erlösung aus Sünde und Tod, wie es im Liede heißt … Rettung der Welt und Rettung jedes Einzelnen. – Wir sind betroffen. Hier zeigt sich Gott! Wir leben in einer Zeit, wo der Mensch mit seinem kleinen Verstand alles Wunderbare aus der Welt hinausgedrängt hat und wieder neu entdecken muss.
Brauchen wir denn – einen Retter? Schaut Euch unsere Welt doch an. Und auch das eigene Leben, da ist keiner, der ganz unbefangen einfach glücklich wäre, der keine Last mit sich herumschleppte. Wir sind alle, ausnahmslos alle, auf Rettung, auf Erlösung angewiesen. Erlösung ist, tief verborgen, ein Teil unserer Sehnsucht. – Ich zitiere abschließend Worte aus einer katholischen Zeitschrift vom Jahre 1909, sie klingen vielleicht ein wenig befremdlich und fern, halten uns aber auch einen Spiegel vor. Hier heißt es von der Weihnachtszeit:
„Strahlen der Liebe gehen aus, kalte Herzen werden wieder warm, die Engel der Weihnacht schweben segnend über der Welt und bringen den Frieden. So vielerlei, was an Mißverständnissen oder Zwiespalt im Laufe der Monate [und Jahre] sich angesammelt hat, schwindet jetzt dahin. Alle wollen sie wieder ein Herz und eine Seele sein. Vor der Krippe kann keine Feindseligkeit, kein Groll [be-]stehen, da herrscht als Königin nur die Liebe. Keiner will mit leeren Händen kommen, jeder will es zeigen, daß auch seine Seele von den Wundern der heiligen Nacht die herrliche, wahre Liebe gelernt hat. Große und Kleine, Reiche und Arme sind in diesen Gedanken geeint … Die Alten werden wieder zu Kindern …“*
* Monika. Zs. für katholische Mütter und Hausfrauen, Jg. 41, Nr. 49, Donauwörth: Ludwig Auer, 1909, S. 582.
Lasst uns in kindlicher Freude auf das Weihnachtsfest zugehen. Der Weihnachts-festkreis reicht vom 24. Dezember bis zum 6. Januar. Auch wer in Arbeit steht, vielleicht große Sorgen hat, kann doch im Inneren lange Weihnachten feiern. Schön, dass Ihr heute gekommen seid … Gottes Segen für Euch in der Heiligen Advents- und Weihnachtszeit!
Jesus Christus spricht: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8, 12).
14./20. Nov. 2024
Ansprache während eines Konzertes des Sebnitzer Bergsteigerchores am 01. 12. 2024 (1. Advent) in der katholischen Kirche Sebnitz. Dauer der Ansprache: ca. 13 Minuten. Eine Straffung um 50% wäre angebracht gewesen. Ich veröffentliche den Textentwurf hier ganz ungeschützt in voller Länge – auch als Botschaft für Nichtchristen..
Ernst Rudolf Zenker: Kriegsweihnacht
Deutsche Weihnachtsfeier 1942 in der Luftnachrichtenschule
Nach Funkübungen und dem Geländedienst in den Dünen fand, vorgezogen auf den 4. Advent [den 20. Dezember], die „deutsche Weihnachtsfeier“ des gesamten Lehrgangs der Luftnachrichtenschule statt. Beginn 18.00 Uhr im großen Speisesaal. Ein Paar Würstchen für jeden, dazu miserabler Kartoffelsalat, der die Wehmut nach häuslicher Tafel weckte.
Fortsetzung der Feier in der Baracke des Uffz.-Speisesaals. Gedeckte Tische. Bier-flaschen und große Tüten mit Bonbons, Pfefferkuchen, Äpfeln und Keksen. Dann das feierliche Entzünden des ersten Lichtes am Tannenbaum. Kehliger, harter Gesang der Soldaten: „Hohe Nacht der klaren Sterne.“ Kurze Ansprache. Am Ende das übliche Besäufnis. Ein Uffz. wird in einer Kiste durch den Saal getragen. Sogar der Hauptmann flieht in die Konturlosigkeit des Rauschs.
1.
Hohe Nacht der klaren Stern
Die wie helle Zeichen steh’n
Über einer weiten Ferne
D’rüber uns’re Herzen geh’n
2.
Hohe Nacht mit großen Feuern,
Die auf allen Bergen sind,
Heut‘ muß sich die Erd‘ erneuern,
Wie ein junggeboren Kind!
3.
Mütter, euch sind alle Feuer,
Alle Sterne aufgestellt;
Mütter, tief in euren Herzen
Schlägt das Herz der weiten Welt!
Hans Baumann 1936
Heiliger Abend 1942
Heiliger Abend an einem Donnerstag in der Baracke der Luftnachrichtenschule. Früh noch Revier reinigen, ab Mittag frei. Baden, sauberes Nachthemd, frische Bettwäsche. Fünf Uhr nachmittags mit W. und G. in Ausgehuniform zum Kirchlein auf den Dünen. Kirchenlieder. Die Predigt des Marinepfarrers im zimmerwarmen Kirchenraum. Wohltuend die Ruhe des weiten Meeres auf dem Rückweg zur Stube. Bleiern schwarz die See in der Christnacht. Feierlich läuten die alten Kirchenglocken von Kamminke über das Dunkel des Haffs.
Wieder in der Stube. Der Tisch ist gedeckt, die Kerzen werden entzündet. Wärme, Tannenduft, Kerzengeruch. Gesang und Geschenke wie bei der Weihnachtsfeier vier Tage zuvor. Dann der Sturz in die Einsamkeit des Einzelnen. Im Lesezimmer hält G. eine Rede. Auch ein Radio war organisiert worden. Musik, dazwischen die üblichen Nachrichten. Schon am 30. November hatte der Reichsrundfunk von „schweren Abwehrkämpfen im Osten“ gesprochen, als wäre das eine ganz normale Sache. Erinnerung an die Worte des ehemaligen Stabsfeldwebels X. am Reformationstag 1942 beim Offiziersunterricht (er war im Rang gestiegen und wollte dem entsprechen): „Wir halten den Krieg noch hundert Jahre aus!“
Es gibt Rum. W. total betrunken. Um Mitternacht hieß es für alle: „Licht aus!“ Der Abend war gelaufen … Im Neuen Jahr erhielten die vier Freunde einen Urlaubsschein für 14 Tage, vom 10. bis 24. Januar. Es war das Jahr 1943.
Nachweihnacht 1943
Januar 1943. Weihnachten war vorbei. Zwei von den vier Kumpels der Langen Straße, Rudolf und P., trafen sich nach den Festtagen wieder. HD hatte von seiner Kaserne keinen Urlaub bekommen, und W., der Älteste von ihnen, lag in Kiew im Lazarett. Ein Splitter stak noch in seinem Körper, wie seine Bruder erzählte. Keiner von ihnen ahnte, daß sie W., den ersten aus der vierköpfigen Jugendbande (sie nannten ihn „Japs“), nie mehr wiedersehen würden. In Rußland gefallen. „Für Führer, Volk und Reich“, wie die monotone Nachricht lautete.
Die ersten Stunden und Tage ihres Urlaubs verschliefen und verdösten die zwei Freunde im elterlichen Hause, im Duft nach Tannengrün und Pfefferkuchen. In Zivilklamotten natürlich, als wären sie die ganze Zeit über zu Hause gewesen und würden für immer hier bleiben. Nichts zog sie hinaus. Nirgendwohin. Vor allem nicht ins Fremde, Unbekannte. Auch zu langem Lesen war Rudolf nicht zumute, auf fremde Länder und unerbittliche Abenteuer hatte er keine Lust. Aber bald wurde dieses Dasein doch langweilig. Man mußte wieder hinaus!
Zuerst besuchten sie sich gegenseitig in den elterlichen Häusern, man ging schnell mal rüber, wie früher. In allen vier Wohnungen der Eltern standen noch weit in den Januar 1943 hinein die geschmückten Christbäume. Wenn Rudolf und P. in der guten Stube neben dem Christbaum saßen, war ihnen so, als wären sie Weihnachten nie fort gewesen. Hatte es diesen Heiligen Abend fern von zu Hause wirklich gegeben oder war alles nur ein böser Traum gewesen?
Um die Stadt zu erkunden, wer noch da war von den alten Bekannten, mußten sie allerdings die Uniform anziehen. Rudolf hatte die Prüfungen der Luftnachrichten-schule an der Ostsee bestanden und trug jetzt am linken Ärmel das runde Peilfunker-abzeichen, auf das er bei allen Vorbehalten sogar ein wenig stolz war … Auf dem Markte traf Rudolf HP. Er war nun in der Kaufmannslehre und hatte das alte, bürgerliche Gebaren, als wäre er noch immer in der Schule. Trotz der verkrüppelten Finger stand seine Einberufung unmittelbar bevor. Ansonsten konnte er nicht mit-reden. Er war ja Zivilist.
Letzte Begegnung im Januar 1943
Es ist eisiges Winterwetter. Rudolf faßt Mut und entschließt sich zu einem Treff mit Anneliese N. Sie war jetzt Röntgenschwester im Krankenhaus. Drei Briefe hatte ihm die Neuhäusel geschrieben, zwei im August und einen im Oktober 1942. Am 18. Januar 1943, Rudolfs neuntem Urlaubstag, trafen sie sich auf dem Markt, an der Ecke zur Kirchstraße. „Diese Eckensteherei liebe ich nicht!“ – „Gehen wir ins Kino?“ – „Heute und am Mittwoch habe ich nicht frei.“ Am Dienstag, es war der 19. Jan. 1944, trafen sie sich um die Mittagszeit wieder auf dem Markt, sprachen sich das letzte Mal. „Darf ich Dich begleiten?“ (das Krankenhaus lag oben, Richtung Knöchel, hinter dem Viadukt). „Ja, gern!“
Vor dem Krankenhaus gaben sie sich noch einmal die Hand, zogen die Handschuhe aus dafür. Letzte flüchtige Berührung, letzte Worte, letzter Blick. Und die dunkle Ahnung: es könnte ein Abschied für immer sein.*
* Zwei Jahre blieben ihr noch – und ein knapper Monat … Anneliese Neuhäuser war eine Schulkameradin meines Vaters auf der Handelsschule in Sebnitz. Jg. 1923 wie mein Vater, ist sie beim Angriff vom 13. Febr. 1945 in Dresden ums Leben gekommen. Auf dem Gedenkstein der Opfer des Zweiten Weltkrieges in Lohsdorf zwischen Sebnitz und Hohnstein steht ganz unten ihr Name.
Auf dem Rückweg trifft Rudolf die schöne, etwas fahlgesichtige Ulrike*, die vor dem Schokoladengeschäft eben die Stufen wischte. Mit ihr war ich doch mal zusammen, denkt Rudolf. „Wie geht es Dir?“ – Jetzt ist sie nicht mehr nur begeistert von HD, sondern in ihn verliebt, mit ihm liiert. „Er dient jetzt bei der SS in der Residenzstadt“, erzählt sie stolz. * Name geändert.
„Das interessiert mich nicht“, sagt Rudolf und geht weiter … – Aus der Welt war die Farbe gewichen.
Bearb. G. Z. am 20. Nov. 2024 (Bußtag).
Vorabdruck aus dem autobiografischen Roman „Leiser Widerstand“ meines Vaters Rudolf Zenker (1923–2017), der im Wesentlichen die Jahre 1933–1945 reflektiert – aus der Sicht eines jungen Menschen.
Weihnachtsgeschichte nach Lukas im Lutherdeutsch
Es begab sich aber zu der zeit / das ein gebot von dem Keiser Augusto ausgieng / das alle welt geschetzt würde. Und diese schetzung war die aller erste / vnd geschach zur zeit / da Kyrenios Landpfleger inn Syrien war / Und jderman gieng / das er sich schetzen liesse / ein jeglicher jnn seine stad. Da machet sich auff auch Joseph aus Galiläa / aus der stad Nazareth / jnn das Jüdische land / zur stad David / die da heisst Bethlehem / darumb das er von dem hause vnd geschlechte David war / auff das er sich schetzen lies mit Maria seinem vertrawten weibe / die war schwanger.
Und als sie daselbst waren / kam die zeit / das sie geberen sollte. Und sie gebar iren ersten Son / vnd wickelt jn jn windeln / vnd leget jn jnn eine krippen / denn sie hatten sonst keinen raum jnn der herberge.
Und es waren Hirten jnn der selbigen gegend auff dem felde / bey den hürten / die hüteten des nachts jrer herde. Und sihe / des Herrn Engel trat zu jnen / vnd die klarheit des Herrn leuchtet umb sie / vnd sie fürchten sich seer. Und der Engel sprach zu jnen / Fürchtet euch nicht / Sihe / ich verkündige euch grosse frewde / die allem volck widerfaren wird / Denn euch ist heute der Heiland geboren / welcher ist Christus der Herr / jnn der Stad David. Und das habt zum zeichen / Ir werdet finden das kind jnn windeln gewickelt / vnd jnn einer krippen ligen. Und alsbald war da bey dem Engel die menge der himmlischen Heerscharen / die lobeten Gott / vnd sprachen / Ehre sey Gott jnn der Höhe / vnd fride auff erden / vnd den menschen ein wolgefallen.
Lukas 2, 1–14
Martin Luther: Biblia / das ist / die gantze Heilige Schrift Deudsch, Bd. 2, Leizig: Reclam, 1983 [Reprint der ersten vollständigen Lutherbibel von 1534 in zwei Bänden, nach dem in der Universitätsbibliothek Leipzig befindlichen Original].